Chironomiden als Bioindikatoren

Protokoll des Meetings 2004
(-> .doc- oder .pdf-Version)

Ergebnisprotokoll des Meetings "Chironomiden als Bioindikatoren" vom 21.9.2004 in Potsdam, 13:00-15:00 h
 

Teilnehmer:
J. Schönfelder (LUA Brandenburg), X.-F. Garcia (IGB Berlin), Th. Kumke (AWI Potsdam), E. Mauch (Dinkelscherben), H. Bohle (Marburg), B. Janecek (Univ. f. Bodenkultur, Wien), A. Sundermann (Senckenberg, Biebergemünd), A. Dettinger-Klemm (Bürogemeinschaft für fisch- und gewässerökologische Studien, BFS, Riedstatt-Erfelden), C. Orendt (Orendt-Hydrobiologie Leipzig).

Der Zweck des Meetings lag darin, die derzeitigen Möglichkeiten und Grenzen der Bioindikation anhand von Chironomiden zu erörtern, Perspektiven  für die Anwendung zu verdeutlichen, Wissenschaftler wie auch Anwender zu informieren und die Kommunikation zwischen diesen beiden Gruppen zu steigern. Ein wichtiges Ziel der Aktivitäten ist, das hohe Potenzial von Chironomiden in der Bioindikation hervorzuheben, sowie anhand dieser Mustergruppe überhaupt die Grundlagen von Bioindikation zu verdeutlichen und verfügbar zu machen. Die Rolle der Chironomiden dabei soll in Praxis und Forschung besser etabliert sowie objektiviert werden. Es gilt auch, Berührungsängste mit den Chironomidae als vermeintlich besonders schwierig und zeitaufwendig zu präparierender und zu bestimmender Tiergruppe zu verringern.

Die Sitzung, die von einer engagierten und regen Diskussion gekennzeichnet war, begann mit einer kurzen Vorstellungsrunde, in der auch erste einleitende Statements abgegeben wurden:
Hr. Schönfelder trat für eine stärkere Berücksichtigung der Chironomiden in der operationellen Taxaliste ein, in der sie gegenwärtig nur auf Familienniveau Eingang gefunden hätten. Fr. Sundermann begründete diese weitgehende Reduzierung mit der bislang schwierigen Bearbeitung, unterstützte ansonsten aber die weitere Einbindung. Hr. Mauch bezeichnete die Tatsache als Misstand, dass die Familie bei den Listen für ökologische Bewertungen im Gegensatz zu Österreich und den Niederlanden in Deutschland als "Makrozoobenthos" quasi ausgelassen werde, obwohl die Tiergruppe in ihren Arten die breiteste ökologische Aufspaltung zeige, alle Habitate abdecke und darüberhinaus auch weitverbreitet sei. Hr. Janecek wies auf die fortschreitende Reduzierung von Taxonomenstellen als eine Ursache für die Vernachlässigung der Chironomiden in der Gewässerökologie hin. Hr. Dettinger-Klemm befand, dass momentan in der Makrozoobenthos-Fachwelt Chironomiden als "Orchideen"-Disziplin be-trachtet und damit geringer geschätzt würden, womit eine unangemessen niedrige finanzielle Honorierung einhergehe. Derzeit sei es praktisch unmöglich als Chironomidenspezialist in Deutschland zu existieren und das obwohl immer wieder betont werde, wie bedeutend Chironomiden in den limnischen Ökosystemen doch seien. Kritisch merkte Herr Dettinger-Klemm ebenfalls an, dass die "Marginalisierung der Chironomidenkunde" unter anderem auch "hausgemacht" sei, da es bislang kein zusammenfassendes Nachschlagewerk (Bestimmung, Ökologie, Bioindikation) gebe, das dem "Normallimnologen" die Arbeit mit dieser Gruppe erleichtere.

Einen großen Raum nahm die Diskussion um eine zeitgemäße und auch für Anfänger geeignete Bestimmungsliteratur ein, welche beitragen könnte, die Akzeptanz unter den Gewässerbiologen zu erhöhen. Es wurde festgestellt, dass zwar einerseits die taxonomischen Grundlagen für einen einführenden Bestimmungsschlüssel weitgehend vorhanden sind, dass es aber andererseits noch kein zusammenfassendes Werk gibt, das dem Anfänger einen motivierenden Einstieg in die Bestimmung von Larven ermöglicht. Hr. Bohle meinte, dass der Zugang nach allgemeiner Auffassung für die sog. EPT-Gruppen leichter erscheine als für Chironomiden. Hr. Schönfelder hielt dagegen, dass die Hemmschwelle für einen Einsteiger, der mit der Chironomiden-Larven-Bestimmung beginnen will, nicht höher liege als z.B. bei Ephemeroptera oder Trichoptera, wenn bei ihm ein generelles Interesse für die Organismen-bestimmung vorhanden sei. Hr. Janecek bemängelte, dass in den verfügbaren Bestimmungsschlüsseln oft einfache Merkmale, wie z.B. markante Kopfkapselformen oder Färbungsmuster, nicht enthalten seien. Hr. Mauch schlug zunächst die Erstellung einer Liste mit Bestimmungsliteratur vor (mit Kommentaren, ähnlich der Liste in der Taxaliste der Gewässerorganismen Deutschlands), wobei diese Liste für die Bewertungspraxis, bzw. für Einsteiger, noch reduziert und verdichtet werden sollte. Produkte wären

eine Checkliste (für Mitteleuropa), aus der hervorginge, was sich bestimmen ließe (als Larve oder Puppenexuvie)
eine Literaturliste und
ein Bestimmungsschlüssel mit Text für Einsteiger.
Außerdem wurde angeregt, einen derartigen Schlüssel auf der Grundlage der bisher internen Kursunterlagen von B. Janecek zu entwickeln.

Die Frage nach den möglichen Einsatzgebieten von Chironomiden wurde eher allgemein beantwortet: zumindest überall dort, wo das übrige Makrozoobenthos nicht mehr oder nur in sehr geringer Artenzahl und Quantität nachzuweisen ist (Hr. Mauch, Hr. Bohle). Für die Bewertungspraxis folgerte Fr. Sundermann daraus, dass die hier relevanten Arten in die operationelle Taxaliste aufgenommen werden müssten, wobei dieses mit dem Vorhandensein eines Bestimmungsschlüssels verknüpft wäre, mit dem die entsprechenden Taxa relativ gut angesprochen werden können. Hr. Bohle stellte die Frage, wozu Chironomiden denn überhaupt in Untersuchungen, Bewertungen etc. bearbeitet werden sollten und welchen Differenzierungsgrad diese Gruppe brächte. Die Antwort dafür liege in der genauen Zielsetzung, z.B. auch welche Dimension für eine Untersuchung eines Lebensraumes betrachtet werde. Hr. Mauch forderte, die Chironomiden auch in Deutschland zum Standard in Untersuchungsprogrammen zu erklären, wie dies in Österreich und den Niederlanden problemlos gemacht wurde, da die Familie das „grundlegende Makrozoobenthos“ darstelle. Die Artenlisten dazu seien vorhanden, die Taxalisten (incl. operationelle T.) müssten nur noch vervollständigt werden. Hr. Bohle meinte ergänzend, der große Erfolg und die Nachfrage der Bestimmungskurse für Chironomiden (AK Taxonomie) spreche doch auch dafür, dass ein hohes Potenzial dafür vorhanden sei, die Chironomiden mehr in die limnologische Arbeit einzubeziehen. Man müsse wahrscheinlich die Besonderheiten des Bewertungspotenzials noch stärker herausstellen. Hr. Dettinger-Klemm stellte fest, dass es derzeit nach wie vor gravierende Wissensdefizite hinsichtlich der ökologischen Charakterisierung der Arten gebe. Veraltete oder einzeln verstreute Daten führten dazu, dass viele Chironomiden sich derzeit kaum ökologisch charakterisieren ließen und damit noch nicht in der Indikation verwenden lassen, obwohl sie in der „community analysis“ einen hohen Beitrag leisten könnten. Herr Dettinger-Klemm regte an, in Zu-sammenarbeit mit den Verantwortlichen der AQEM-Autökologiedatenbank, eine Checkliste zur Autökologie der Chironomden Mitteleuropas zu erarbeiten. Ebenfalls könne die Fauna Aquatica Austriaca als Grundlage dienen. Hr. Kumke informierte darüber, dass im Gegensatz zur gegenwärtig geringen Akzeptanz und skeptischen Haltung vieler Kollegen zur Einbeziehung von Chironomiden in Studien und Bewertungen die Bearbeitung dieser Familie in der Paläolimnologie heute internationaler Standard und nicht mehr wegzudenken sei. Be-rührungsängste gebe es nicht. Die Hauptursache dafür liege darin, dass die Bioindikation durch Chironomiden sich hier auf Sauerstoffverhältnisse und Temperatur (auch Trophie) konzentriere, was durch das Vorkommen der Taxa gut angezeigt werde, z.T. sogar einfacher als mit Diatomeen.  Gleichwohl habe es in den 1990-er Jahren auch eine kritische Diskussion gegeben, die jetzt jedoch überwunden sei.

Im Hinblick auf die Durchführung der Untersuchungen zur Umsetzung der WRRL stellte Fr. Sundermann die Fragen nach dem Verhältnis zwischen Aufwand und Kosten und welche Zusatzinformationen die Bearbeitung von Chironomiden in der Gewässerbewertung denn tatsächlich brächte. Dazu meinte Hr. Kumke, dass - präziser - weniger nach der "Zusatzinformation“, sondern eher nach der "Information" überhaupt gefragt werden müsse, um den Wert dieser Gruppe abzuschätzen. Die konkrete Kostenfrage wurde kurz, kontrovers und nicht ab-schließend erörtert. Als grobe, unverbindliche Zahlen wurden für den Zeitbedarf, eine Probe von ca. 100 Larven zu bestimmen, 1-3 Stunden genannt. Allerdings sei der Zeitaufwand naturgemäß stark von der Fragestellung und der daraus resultierenden Bestimmungsschärfe abhängig.

Aus den vielfältigen Beiträgen der Teilnehmer ließ sich folgender momentaner Bedarf für die Etablierung und weitere Qualifizierung von Chironomiden in der Bewertungspraxis und Studien verdichten, wobei auf bereits bestehende Werke aufgebaut werden kann:

Entwicklung eines Larven-Bestimmungschlüssels (für den mitteleuropäischen Raum), der den Anforderungen der Praxis nach bewertungsrelevanten Taxa besonders entgegenkommt
Zusammenstellung und Aktualisierung der ökologischen Profile der Arten
Erörterung der Ergebnisse der vorigen Punkte in zeitnahen Arbeitsgruppentreffen
Erstellung eines Positionspapiers.
Die genannten Punkte sollen zusammen mit weiteren interessierten Experten gemeinsam umgesetzt werden. Alle interessierten Kollegen werden dazu eingeladen.

Viele wichtige Fragen blieben aufgrund des bescheidenen Zeitrahmens offen oder wurden naturgemäß nicht angesprochen, bzw. nur angerissen. Die tiefere und konzentriertere Behandlung der Themen (z.B. Möglichkeiten und Grenzen der Bewertung, Arbeitsaufwand, taxonomischer Stand, Bestimmungsliteratur, Ausbildung, Defizite an ökologischer Kenntnis, Akzeptanz bei Anwendern, Anwendungsgebiete, Monitoring/Routine, internationale Zusammenarbeit, Praxisorientierung, allgemeine Anforderungen u.a.) soll in weiteren AK- und Expertentreffen und mittelfristig in einer mitteleuropäischen internationalen Tagung zur Erörterung kommen.

Abschließend wurde besonders auf Anregung von Hrn. Mauch und Hrn. Bohle ein Arbeitskreis "Chironomiden als Bioindikatoren" innerhalb der DGL gegründet und beim Vorstand der DGL angemeldet, um die Initiative zu institutionalisieren (Vorteile: Briefkopf der DGL bei offiziellen Schreiben, Förderanträgen, Vernetzung mit AK Taxonomie u.a., Förderung bei Tagungen etc.) und damit die Erfolgsaussichten der Zielstellungen zu steigern. Die gegenwärtige Leitung liegt bei C. Orendt. Eine Vorstellung des AK ist in den nächsten DGL-Mitteilungen sowie über eine Präsentation auf einer eigenen Website oder derjenigen der DGL vorgesehen.
 

Leipzig, 4.10.2004
Claus Orendt
unter Mitarbeit von Berthold Janecek und Andreas Dettinger-Klemm

zurück